Auch wenn Kritiker alljährlich immer wieder von einem "lahmen Debattierklub, der heikle Themen meidet" sprechen, so wurden sie doch heuer beim sog. "Petersburger Dialog" Lügen gestraft. Die Würze hierfür kam aus Deutschland. Nur wenige Tage zuvor hatte sich die Jury des Quadriga-Preises dazu entschlossen, ein Jahr Pause einzulegen. Der Preis sollte 2011 für seine Verdienste um die Verlässlichkeit und Stabilität der deutsch-russischen Beziehungen an den russischen Premierminister Wladimir Putin verliehen werden. Nachdem dies jedoch zu heftigen parteiübergreifenden Protesten in Deutschland und in den Reihen der russischen Opposition führte, beschloss sich der für die Verleihung zuständige Verein Werkstatt Deutschland für die diesjährige Aussetzung. Nicht wirklich also gute Voraussetzungen für die Planungen zu einem engeren Zusammenrücken der beiden Staaten. So zeigten sich vor allem zu Beginn der 13. deutsch-russischen Regierungskonsultationen einige Spannungen in wichtigen Sachbereichen.
Da geht es zum Ersten um die Reisefreiheit der Russen in Deutschland. Hierfür ist nach wie vor ein Visum erforderlich. Die russische Seite zeigt sich darüber sehr unglücklich. Erschwert wird Hierdurch nicht nur die wirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern auch der Studenten- oder Wissenschaftler-Austausch. Merkel macht jedoch reinen Tisch: Es ist nicht jeder willkommen in Deutschland! Zuerst soll eine Visa-Warndatei für Kriminelle und terroristische Gefährder aufgebaut werden. Im kommenden Jahr folgt ein Stufenplan zum Abbau dieser Reise-Einschränkungen. Erst wenn dies abgeschlossen ist, wird sich die Bundesregierung auch in Brüssel für die Visa-Freiheit für Russen in der EU einsetzen. Aus deutscher Sicht könnte die Visa-Pflicht im Jahr 2018 fallen. Dann wird Russland die Fußball-Weltmeisterschaft austragen. Dies jedoch dauert Medwedew zu lange. Schließlich könnten russische Unternehmen den europäischen Markt gut gebrauchen.
Zweiter großer Brocken sind die Gaslieferungen. Deutschland ist mit 32 % der gesamten russischen Gasexporte und 36 % beim Erdöl ein Großabnehmer. Medwedew betont, durchaus den gesteigerten Gasbedarf in Deutschland nach der Energiewende abdecken zu können. Der Riese Gazprom steht bereits mit den hiesigen Energie-Konzernen RWE und E.ON in sehr engem Kontakt. Dies strebt jedoch Merkel nicht an. Auch Großbritannien und Norwegen liefern Gas. Bei einem Ostmonopol über die North-Stream-Pipeline durch die Ostsee etwa entstünde eine zu große wirtschaftliche und politische Abhängigkeit. Hier wies die Bundeskanzlerin ihren Amtskollegen in die Geheimnisse der freien Marktwirtschaft ein: "Die Marktkräfte entscheiden!" Sprich: Wer den besseren Preis macht, bekommt auch den Zuschlag.
Weiter diskutiert wurde der deutsche Atomausstieg, die Euro-Krise, Syrien, das Importverbot von deutschem Gemüse und Fleisch in Russland, ein öffentlich-rechtliches Fernsehen in Moskau und die Anerkennung akademischer Abschlüsse. Russland setzt auf Hochtechnologie aus dem Westen und eine gute Ausbildung von Fachkräften, Deutschland hingegen ist an Beteiligungen im Rahmen der Energieeffizienz bzw. der Kraft-Wärme-Koppelung interessiert. Das größte Land der Erde möchte seine Energie-Effizienz bis 2020 um rund 40 % steigern. Auch sind deutsche Investitionen im Bereich der sog. "Seltenen Erden" durchaus willkommen. Insgesamt wurden nicht weniger als 15 Vereinbarungen unterzeichnet. Neun Bundesminister und ihre entsprechenden Amtskollegen aus Russland brachten damit vor der politischen Sommerpause in Berlin vielleicht nicht wirklich Entscheidendes auf Schiene, jedoch wurden längst fällige bilaterale Kleinigkeiten erledigt.
Grundsätzlich wird von einer "guten Stimmung" in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover gesprochen. Angela Merkel betont dabei immer wieder die Notwendigkeit eines offenen Dialogs als Basis für eine bessere Zusammenarbeit. Nur wenn die Probleme ausgesprochen werden, könnten auch Lösungen dafür gefunden werden. "Je unabhängiger Sie sind, desto lieber kommen wir zu Ihnen!" Mehr als ein Seitenhieb auf den im Hintergrund nach wie vor die Fäden ziehenden Wladimir Putin. Klare Worte kamen allerdings überraschend auch zurück: In Russland bestehe eine Diskrepanz zwischen Geist und der Ausführung der Gesetze. Der Kritik der gesellschaftlichen Gruppierungen müsse deshalb in der Politik mehr Platz gewährt werden. Dies ist auch der Gedanke des Petersburger Dialoges. Durch den Meinungsaustausch dieser NGOs (Nicht regierungsbeteiligte Organisationen) soll der zivilgesellschaftliche Dialog beider Länder vorangetrieben werden. Die Idee stammt von Wladimir Putin und Gerhard Schröder, der erste Dialog wurde 2001 abgehalten. Heuer war erstmals eine Vertreterin der Menschenrechtsorganisation Memorial in die Diskussionen involviert. "Engagement war früher in der Sowjetunion verdächtig!" Mit dieser historisch begründeten Aussage versucht Medwedew den Umgang mit Regime-Kritikern in Moskau zu rechtfertigen. Auf die nächsten Parlamentswahlen im Dezember bzw. Präsidentschaftswahlen im kommenden März angesprochen betonte dieser, dass er sich für deren demokratische Abhaltung einsetzen werde.
Die deutsch-russischen Handelsbeziehungen dürften 2011 einen neuen Rekordwert erreichen. So geht der Vorsitzende des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft, Metro-Vorstand Eckhard Cordes, von einem Handelsvolumen von 70 Milliarden Euro aus. Außenminister Guido Westerwelle spricht von einem "strategischen Partner" und "Wir sind daran interessiert, dass wir gut zusammenarbeiten!" Dies möchte etwa auch die Deutsche Bahn. Sie erwägt nach Angaben der Moskauer Zeitung "Wedomosti" den Einstieg bei einem russischen Unternehmen, das den Zuschlag für den Bau einer 700 km langen Bahnstrecke in Nordsibirien erhielt. Projektkosten: 4,3 Milliarden Euro.
Gleich nach seiner Rückkehr nach Moskau nahm sich Medwedew eines anderen großen Kapitels an: Dem Alkoholmissbrauch. Jedes Jahr sterben Hunderttausende Menschen an dessen Folgen. Ab dem kommenden Jahr soll in allen öffentlichen Anlagen ein Alkoholverbot in Kraft treten, ab 2013 nachts keine alkoholischen Getränke mehr ausgeschenkt werden. Die Ärzte allerdings befürchten, dass Alkoholiker dann erneut zu Frostschutzmittel greifen werden. Russland hat nach Angaben des Gesundheitsministeriums einen Pro-Kopf-Verbrauch von 15,2 Liter Alkohol pro Jahr - in Deutschland sind es etwa 10 Liter.
Ulrich Stock
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