Auf der Grossbaustelle des künftigen unterirdischen Stuttgarter Hauptbahnhofes herrscht wieder rege Betriebsamkeit! Nach einer zweimonatigen Zwangspause haben die Arbeiter Schaufel und Spitzhacke erneut zur Hand genommen. Im Sinne der Bahn viel zu spät, im Sinne der baden-württembergischen Landesregierung jedoch noch zu früh. Ursprünglich war vereinbart worden, dass die Wahl des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann abgewartet werden solle. Dann jedoch pochte die neue Landesregierung und die Schlichtungsstelle auf den Stresstest, der am 14. Juli durch Heiner Geissler veröffentlicht werden soll! Doch scheiterten zuletzt die Verhandlungen. Der Deutschen Bahn wurde die Verzögerungstaktik der Politiker zu bunt - sie forderte 56 Millionen Euro, sofern es zu einer Verlängerung des Baustopps kommen sollte. Schliesslich kostet jeder Tag, an welchem die Maschinen stehen, immens viel Geld. Daneben müssen bis zum 15. Juli auch die Aufträge für die kilometerlangen Tunnelstrecken vergeben werden, ansonsten drohen sündhaft teure Prozesse. Auftragswert: 750 Millionen Euro! So wurden dieser Tage die Arbeiten am bereits abgerissenen Nordflügel fortgesetzt - hier soll künftig die Technik des Tiefbahnhofs untergebracht werden. Damit entschloss sich der Bauträger allerdings auch, einen rüderen Ton gegenüber der Demonstranten anzuschlagen. Zwei Sitzblockaden mit jeweils rund 100 Demonstranten (bei der Baustellenzufahrt und der Grundwasserregulierung) wurden durch die Polizei ebenso wie eine weitere friedliche Demo von rund 3000 Bürgern aufgelöst. Einige wurden fortgetragen - sie erwartet eine Anzeige wegen Nötigung. Und dann kam es zu dem, was nicht nur die Experten bereits seit Monaten befürchtet haben: Etwa 1.500 Menschen zogen zum Areal des Grundwassermanagements und rissen Bauzäune nieder. Millionen-Schaden wurde angerichtet, acht Polizisten erlitten durch Böller ein Knalltrauma - ein Polizist in zivil wurde schwer verletzt! Bei 16 Personen klickten die Handschellen - die Polizei ermittelt bereits wegen versuchten Totschlags. Die Lage ist also eskaliert - nun gilt es, die Verantwortlichen dafür zu finden. Vonseiten der demonstrierenden "Parkschützer" heisst es, dass die Demonstranten keine Gewalt angewendet hätten. Dem hält Innenminister Reinhold Gall (SPD) entgegen, dass es erschreckend und nicht hinzunehmen sei, "dass ein 42-jähriger Polizeibeamter von Störern zusammengeschlagen und erheblich verletzt wurde". Der Sprecher der "Parkschützer", Matthias von Herrmann, betont, dass der Zivilpolizist unverletzt war. Der Mann sei von Demonstranten aus der Menge geführt worden. Die Polizei versuche nur, "einen Keil in den Widerstand zu treiben!" Ministerpräsident Kretschmann fordert dazu auf, die Auseinandersetzung friedlich und sachlich zu halten, damit der Schlichtungsprozess nicht konterkariert werde. Dem schliesst sich auch sein Kabinett an. Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) beschuldigt das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 durch "die aggressiven und beleidigenden Reden und Angriffe in der Vergangenheit" zu dieser Gewaltbereitschaft beigetragen zu haben. Unterstützung erhält er dabei auch von seinem Parteikollegen aus dem Bundestag, dem stellvertretenden Fraktionschef Arnold Vaatz (CDU), der von einer kriminellen Entgleisung spricht und die Bestrafung der Schuldigen fordert. Die Union empfiehlt nun den Protestierenden, sich eindeutig von den gewaltbereiten Demonstranten abzugrenzen. Das Aktionsbündnis, dem auch die "Parkschützer" angehören, distanziert sich von den Ausschreitungen. "Wir haben Gewalt immer abgelehnt, nie dazu aufgerufen und werden es auch in Zukunft nicht tun!", soweit die Sprecherin des Bündnisses Brigitte Dahlbender. Am grünen Tisch wird unterdessen fleissig weitergestritten. So hat der Umweltverband BUND eine einstweilige gerichtliche Verfügung beantragt, da die Bauarbeiten ohne die notwendigen Genehmigungen fortgesetzt worden sind (etwa zur grösseren Grundwasserentnahme). Bei der Landesregierung hingegen hoffen vornehmlich die Grünen, der Stresstest werde aufzeigen, dass mehr als die veranschlagten 4,1 Milliarden für dieses Projekt aufgewendet werden müssen. Dann würde sich das Land aus dem Projekt zurückziehen - das Aus von Stuttgart 21! Niemand wagt allerdings vorherzusagen, was geschieht, wenn dieser Stresstest positiv für die Bahn ausgehen wird. Bei einer Volksabstimmung im Herbst gebe es sicherlich nicht die erforderliche Mehrheit gegen den Bau. In Berlin hält sich die Regierung bedeckt. Sollten sich die Grünen in Baden Württemberg durchsetzen und das Projekt nicht gebaut werden, so wird dies dem Bündnis 90/Die Grünen einen bundesweiten Aufwind geben. Davon wären nicht nur die kommenden Landtags- sondern auch die Bundestagswahlen 2013 betroffen. Stuttgarts Polizeipräsident Thomas Züfle versucht nicht noch mehr Öl ins Feuer zu giessen! Er will nach wie vor keine Wasserwerfer einsetzen, da er keinerlei Chaoten von ausserhalb unter den Randalierern entdecken konnte. Doch mahnt er dazu, dass ihm nichts anderes übrig bliebe, wenn es zu weiteren Gewalteskalationen käme. Die Befürworter des Milliardenprojektes fordern inzwischen von der Politik für eine Deeskalation der Lage zu sorgen. Es müsse aufgezeigt werden, dass die Bahn sehr wohl das Recht für den Bau habe, so S21-Sprecher Wolfgang Dietrich gegenüber des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel". Das Aktionsbündnis gegen 21 hat sich unterdessen neu formiert. Nach den Landtagswahlen legte der Stuttgarter Stadtrat Gangolf Stocker vom Bündnis "Stuttgart Ökonomisch Sozial" (SÖS) die Funktion des Sprechers nieder. Er hatte sich zuvor an der Basisdemokratie des Aktionsbündnisses die Zähne ausgebissen. Stocker wurde durch den Fraktionsvorsitzenden des SÖS Hannes Rockenbach und der Landesvorsitzenden des Umweltverbandes BUND, Brigitte Dahlbender, ersetzt. Beide sollen nun die Kräfte, die zuletzt auch intern immer weiter auseinandergingen, wieder bündeln und das Bündnis dadurch schlagkräftiger machen. UIrich Stock
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TAM-Wochenblatt Ausgabe 20 KW 26 | 29.06.2011 |
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