Berlusconi-Kritiker sprechen von Ablenkung - durch die aufgekommene Visa-Diskussion soll vom Bunga-Bunga-Prozess in Mailand abgelenkt werden. Doch für viele europäische Politiker ein schlechter Scherz: Den Flüchtlingen aus Nordafrika, die es mit Booten bis zur Flüchtlingsinsel Lampedusa/Italien geschafft haben, soll ein italienisches Touristenvisum ausgestellt werden. Diese Visa sind gleichbedeutend einer Aufenthaltsgenehmigung für sechs Monate - davon darf die Hälfte der Zeit irgendwo im Schengenraum der EU absolviert werden. Damit ist also eine freie Reisemöglichkeit gewährleistet. Die Alarm-Glocken in den meisten Innen- und Sicherheitsministerien heulen deshalb laut auf, denn diese Menschen dürfen nur dann wieder nach Italien zurückgeschickt werden, wenn sie keinen Lebensunterhalt nachweisen können oder straffällig geworden sind. So wird etwa von einem "Missbrauch der gemeinsam beschlossenen Regeln" zum Schengen-Abkommen gesprochen (CSU-Politikerin Gerda Hasselfeldt). Die meisten der Flüchtlinge sind Wirtschaftsflüchtlinge, die gar keine Aussicht auf ein erfolgreiches Asylverfahren haben. Andere Politiker hingegen sprechen von keinem "Fall Italien"; schliesslich habe das Land im vergangenen Jahr nur halb so viele Asylwerber wie beispielsweise Deutschland oder Frankreich aufgenommen. Italien erhält aus mehreren Fonds der Europäischen Gemeinschaft Geldmittel, um die Grenzen gegenüber Drittstaaten zu schützen, Flüchtlinge zu integrieren oder wieder abzuschieben. Deshalb wird nun - sollte der italienische Ministerpräsident tatsächlich Visa ausstellen - laut darüber nachgedacht, diese Geldmittel zu stoppen (das Land hat über 100 Mio € aus dem Flüchtlingsfonds beantragt). Sind es im Vergleich auch derzeit noch wenige Flüchtlinge, so befürchten die Experten eine Signalwirkung für den gesamten afrikanischen Kontinent - die schon seit längerer Zeit befürchtete wirtschaftliche Völkerwanderung könnte dadurch ins Rollen gebracht werden. Deshalb soll gegen die vornehmlich tunesischen Flüchtlinge entsprechend der jeweiligen Gesetzeslage vorgegangen werden: Schutz für die wirklich Schutzbedürftigen - Nein allerdings zu Wirtschaftsflüchtlingen. Der Krisenherd Tunesien ist nicht mehr am Brodeln. Die Bundesregierung erklärte hierzu, dass diese italienischen Touristenvisa nicht anerkannt werden. Deshalb würden die Kontrollen im Hinterland "situationsangepasst" verstärkt (Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich) - Bayern fordert sogar wieder Grenzkontrollen gegenüber Österreich. Frankreich hat bereits die Schlagbäume zu Italien zumindest symbolisch wieder aufgestellt, die Polizei führt verstärkt Passkontrollen durch. In der Schweiz fordern rechtpopulistische Politiker das Aufziehen einer Mauer entlang der Grenze zu Italien. Dies alles jedoch sorgt für Missstimmung beim Koalitionspartner FDP. Dort spricht Aussenamts-Staatsministerin Cornelia Pieper von einem "europapolitischen Problem und einer Menschenrechtsfrage". Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR habe Deutschland bereits abgemahnt. In dieselbe Bresche springt auch Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin. Er betont, dass Europa verpflichtet sei, bei solchen "Massenfluchtsituationen" vorübergehend Schutz zu gewähren. Im März war eine Zunahme von nordafrikanischen Asylanten in der deutschen Asylstatistik noch nicht auszumachen. 3.527 Personen suchten um Schutz an - dies sind 7,2 % mehr als im Februar. Die Herkunftsländer bleiben jedoch zumeist Afghanistan, Irak, Iran und Serbien. In Italien selbst zeigt man sich enttäuscht. So meint etwa Innenminister Roberto Maroni: "Wir haben um Solidarität gebeten und uns wurde gesagt, helft euch selbst!" Hier beginnt inzwischen eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit der EU-Zugehörigkeit. Dies jedoch sieht Paris grundsätzlich anders. Im Elysée-Palast geht die Regierung Sarkozy davon aus, dass die meisten Flüchtlinge aus Tunesien ohnedies Frankreich als Ziel auserkoren haben. Damit hätte dann die Tricolore ein wesentlich grösseres Problem, da die Migration von vornehmlich algerischen - aber auch schwarzafrikanischen Flüchtlingen dort einfach nicht in den Griff zu bekommen ist. Wenn nun zusätzlich tunesische Wirtschaftsflüchtlinge hinzukömmen, könnte es zu einem Pulverfass kommen, das jederzeit explodieren kann. In Berlin gibt man sich betont zurückhaltend - nur ganz wenige der etwa 26.000 Lampedusa-Flüchtlinge wollen nach Deutschland emigrieren. Unbestritten ist die Tatsache, dass die meisten der Flüchtlinge aus wirtschaftlichen Überlegungen von Tunesien nach Europa kommen wollen. Täglich landen rund 500 von ihnen auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa. Sie werden von vornehmlich kriminellen Schleuserbanden nach Italien gebracht - mit 1.500,- € pro Kopf bezahlen sie dafür nicht selten mit ihrem gesamten Hab und Gut. Eine Reise, die lebensgefährlich werden kann: Seit dem 01. Februar sind zwischen Nordafrika und Italien mehr als 500 Menschen im Mittelmeer verschwunden. Die italienische Regierung sagte beim Treffen der Innenminister in Luxemburg zu, täglich zumindest wieder 60 Flüchtlinge nach Tunesien zurückzubringen. Nur ein Bruchteil der Menschen kommt aus Schwarzafrika, da diese vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges in den berüchtigten Auffanglager des umstrittenen Diktators Gaddafi landeten. Und die Libyer selbst sind es nicht gewohnt ausreisen zu können. Erst wenn der Bürgerkrieg beendet ist, werden die Unterlegenen aus Angst um ihr Leben in grossem Umfang flüchten. Apropos: Tunesien hat alleine in den letzten Wochen rund 160.000 humanitäre Flüchtlinge aus Libyen vorübergehend aufgenommen. Bereits vor dem nächsten Treffen der EU-Regierungschefs soll das Schengen-Abkommen auf Drängen Deutschlands und Frankreichs erweitert werden. Den Mitgliedsländern soll es ermöglicht werden, unter gewissen Umständen wieder zeitlich begrenzte Grenzkontrollen einzurichten. Derzeit ist dies nur stichprobenartig möglich - dafür können die Kontrollen im Hinterland verschärft werden. Ausserdem sollen Verhandlungen mit Tunesien stattfinden, damit die europäische Grenzschutzagentur Frontex Flüchtlingsboote direkt vor der tunesischen Küste abfangen und zurückschicken kann. Ulrich Stock |
TAM-Wochenblatt Ausgabe 14 KW 16 | 20.04.2011 |
|