Die größte norwegische Tageszeitung "Aftenposten" hatte erst Mitte Juli getitelt "Wir baden im Wohlstand" - es gehe Norwegen gut. Teures Nordsee-Erdöl wird nach China verkauft, gleichzeitig zehrt das Land von den niedrigen Zinsen des Euros aufgrund der Griechenland-Krise. Eigentlich könnte es endlos so weitergehen. Doch zerstörte ein offenbar außer Kontrolle geratener Rechtsradikaler diese Idylle: Der 32-jährige Anders Behring Breivik wird wohl als einer der grausamsten Massenmörder in die weltweite Kriminal-Geschichte eingehen. Heute ist in Norwegen kein Stein mehr auf dem anderen. Auch wenn die Trümmer und Spuren inzwischen beseitigt sind, so werden noch für lange Zeit Tränen vergossen und Blicke fassungslos ins Leere gehen.
Das unglaubliche Drama beginnt um 15.26 Uhr des 22. Juli, Freitag. Detonationen mitten im Zentrum von Oslo lassen Gebäude erzittern und Fenster bersten. Aus einem Regierungsgebäude steigt Rauch auf. Es ist jenes Haus, in welchem Ministerpräsident Jens Stoltenberg seinen Geschäften nachgeht. Die ersten Meldungen kommen rund eineinhalb Stunden später: Es gab acht Todesopfer und 14 Verletzte, Stoltenberg konnte in Sicherheit gebracht werden. Eine Autobombe ist auf der Straße explodiert und hat auch das angrenzende Verlagsgebäude der größten Boulevard-Zeitung des Landes "Verdens Gang VG" beschädigt. Ein Augenzeuge hatte berichtet, wie ein einzelner Polizist das Auto vor dem Ministerium abgestellt habe. Er hatte sich noch gewundert, da in Norwegen die Polizei immer zu zweit patrouilliert.
Um 18.32 Uhr berichtet der öffentlich-rechtliche Fernsehsender NRK von Schüssen auf der Ferieninsel Utoya. Dort befinden sich rund 600 Jugendliche auf Ferienlager. Mitglieder der Jugendorganisation AUF, einem Ableger der regierenden sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Der Täter soll eine Polizeiuniform tragen. Er habe gegen 16.00 Uhr die Jugendlichen um sich versammelt, um sie über die Vorgänge in Oslo zu informieren und dann das Feuer eröffnet. Er schießt auf alles was sich bewegt. Antiterroreinheiten der Polizei werden auf die Insel gebracht, doch reichen die vorhandenen Boote nicht aus. Anders B. wird von einem Hubschrauber aus unschädlich gemacht und von dem Sonder-Einsatzkommando überwältigt. Den Einsatz- und Rettungstruppen bietet sich ein Bild des Grauens. 68 Menschen wurden getötet, viele verletzt, die Überlebenden stehen unter Schock. Am Samstag wird die Insel evakuiert. Königin Sonja und Ministerpräsident Stoltenberg machen sich vorort ein Bild und versuchen, Überlebende bzw. Angehörige zu trösten. Stoltenberg spricht von der größten Katastrophe des Landes seit dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht im Jahr 1940. Augenzeugen berichten, dass Behring Breivik mit einem Gewehr und einer Pistole wahllos auf die Menschen geschossen haben soll. Auch auf solche, die sich schwimmend in Sicherheit bringen wollten. Immer wieder wird davon gesprochen, dass die Schüsse aus zwei Richtungen gekommen sein sollen. Somit müsste demnach auch ein zweiter Täter beteiligt gewesen sein.
Anders B. wird von seinen Nachbarn als charmant und freundlich beschrieben. Der 32-jährige hatte im Frühjahr 2009 einen Bio-Bauernhof in Hedmark angemeldet. Angeblich wollte er verschiedene Gemüse- und Obst-Sorten anbauen. Hierfür bestellte er im vergangenen Mai sechs Tonnen Düngemittel. Jetzt ist klar, dass er diese zum Bombenbau verwendete. Bei der Arbeit im Garten, wie dem Rasenmähen etwa, wurde er nie gesehen. Erst bei einem Blick ins Internet werden die wahren Vorlieben bewusst. Er ist zwar christlich, aber anti-islamistisch (also rechtsradikal) eingestellt. So ist er auch Mitglied einer imaginären Gruppe von sog. Verteidigern Norwegens und Europas gegen "Marxismus und Islamismus". Auch in der rechtspopulistischen Partei war er für einige Monate als Mitglied gemeldet. Er liebt das Killerspiel "World of Warcraft". Hier durfte er sich auch die Anleitung für dieses Massaker geholt haben. So schoss er mehrfach auf seine Opfer. Noch lebende Jugendliche exekutierte er durch einen Kopfschuss.
Einige Stunden vor diesen Ereignissen hat Behring Breivik ein 1.500 Seiten starkes Pamphlet mit dem Titel "2083 - Eine europäische Unabhängigkeitserklärung" von Andrew Berwick (London) ins Internet gestellt. Darin enthalten sind alle ideologischen Hintergründe sowie die Anleitung zum Bombenbau. Die letzte Eintragung stammt vom Freitag, dem 22. Juli 2011 - 12.51 Uhr. Bereits am 17. Juli veröffentlichte er auf Twitter die Kurznachricht: "Eine Person mit einem Glauben, hat die Kraft von 100.000 Personen, die nur Interessen haben!" Es war die einzige Eintragung. Aus seinem Facebook-Profil geht hervor, dass Kants "Kritik der reinen Vernunft" zu seiner Lieblingslektüre zählt. Seine beiden Terrorakte bezeichnet er selbst in seinem Manifest als Märtyrertaten. Seinem Anwalt gegenüber soll er von "grausam aber notwendig" gesprochen haben, er habe "diese Taten zu Ende bringen müssen". Der Verhaftung widersetzte er sich nicht, obgleich er noch jede Menge Munition bei sich trug - bereits am Samstag lag ein Teilgeständnis vor. Experten stellen Vergleiche zum Oklahoma-Bomber an. Timothy James McVeigh kämpfte ebenfalls gegen die Regierung und war Mitglied einer rechtsextremen Bürgermiliz.
In dem Manifest werden als mögliche Ziele in Deutschland auch Kanzlerin Merkel, die SPD und das Bündnis90/Die Grünen erwähnt. Deshalb ermittelt derzeit der Verfassungsschutz, ob Verbindungen zu deutschen Rechtsradikalen bestehen.
Ulrich Stock
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