Es ist 14.45 Uhr Ortszeit Tokio am Freitagnachmittag. Nach wie vor herrscht in den Büros und Werkshallen rege Betriebsamkeit, als plötzlich ein dumpfes Grollen zu vernehmen ist. Einige machen noch einen Scherz; "Jetzt geht es gleich wieder los!" Die Japaner sind Erdbeben gewohnt und kriechen unter die Tische, wie sie es in unzähligen Alarmübungen gelernt haben. Doch als das Grollen nicht aufhört, der Boden zu schwanken beginnt, Computer von den Tischen fallen und Decken herabbrechen, geht die Angst um - die Spässe finden schlagartig ein Ende. Tatsächlich zeigt der Ausschlag 9,0 JMS (japanische (Lokalbeben)Magnituden-Skala). Das Epizentrum liegt rund 130 km östlich der Küstenstadt Sendai auf der Hauptinsel Honshu. Auch im 270 km entfernten Tokio laufen die Menschen in Panik auf die Strassen. Nach einer unheimlich langen Minute ist der Spuk vorbei. Viele atmen erleichtert auf - ein solch heftiges Beben gab es wohl noch nie (sogar in der Erdbebenstation der Universität Köln wurde ein Ausschlag gemessen). Doch jetzt schlägt die Natur erneut mit aller Wucht zu. Ein Tsunami mit zehn Meter hohen Wellen überflutet die Küstengebiete. Das Wasser dringt bis tief ins Landesinnere vor und reisst alles mit sich. Die Katastrophe ist unbeschreiblich. Aus anfänglich nur wenigen Todesopfer werden Tausende - täglich wird diese Zahl nach oben korrigiert. Für den gesamten Pazifik-Raum wird eine Tsunami-Warnung ausgesprochen. Russland, Indonesien und die Philippinen evakuieren die Küstengebiete, auch die USA und Chile warnen vor und beginnen mit Evakuierungsmassnahmen. In der Nacht treffen dann die Wellen auf das rund 6.000 km entfernte Hawaii und etwas später auf das 8.000 km entfernte US-amerikanische Festland in Oregon. Unglaublich - die Höhe der Wellen bewegt sich nach wie vor zwischen einem und zwei Metern. Japan wird jedes Jahr von mehreren Erdbeben heimgesucht. Entstanden doch die Inseln ebenso wie die Aleuten und die Kurilen durch die Kontinentaldrift der Erdplatten. Gleich vier dieser Platten (Nordamerikanische, Eurasische, Philippinische und Pazifische Platte) treffen in diesem Bereich der Erde aufeinander. Dabei überlagern sich die Schelfränder der Platten (Subduktion), was immer wieder zu Vulkanausbrüchen führt. Das Land des Tennos hat aus den grossen Beben im Jahr 1923 und 1995 gelernt. Am 1. September 1923 forderte ein Beben in der Kanto-Ebene auf der Hauptinsel Honshu beinahe 143.000 Todesopfer. Es hatte die Stärke 7,9. Am 17. Januar 1995 starben rund 6.500 Menschen bei einem Erdbeben bei Kobe. Es dauerte nur 20 Sekunden und wies die Stärke von 7,3 nach JMS auf. Seither müssen beispielsweise Hochhäuser durch ein kompliziertes hydraulisches System gesichert werden. Atomkraftwerke werden erdbebensicher konstruiert - bis zu einer Stärke von 8,25. Dieses Beben am 11. März war stärker! Alljährlich werden im Gedenken an die Opfer aus den 1920er Jahren im ganzen Land Erdbeben-Übungen abgehalten. Zum Gepäck eines jeden Japaners zählen deshalb auch ein Vorrat an Wasser, eine Strassenkarte mit Sammelpunkten und eine Taschenlampe. Diese Vorsichtsmassnahmen liessen somit auch die Opferzahlen durch das Erdbeben selbst sehr gering ausfallen. Mit einem Tsunami hingegen hatte niemand gerechnet! Die Situation wird umso prekärer, als die Wasserleitungen unterbrochen wurden und Gasrohre explodierten. Die Atomkraftwerke wurden sofort abgeschaltet - alleine in Tokio mussten rund 4 Mio Menschen ohne Strom auskommen. Doch werden auch die Kühlsysteme der AKWs selbst durch Strom betrieben. Die Notstromaggregate schalteten sich zwar ein, funktionierten allerdings nicht mehr oder waren überlastet. Damit konnten die stillgelegten Brennstäbe nicht ausreichend gekühlt werden. Eine Kernschmelze wäre die logische Folge. Die Regierung rief deshalb im Umkreis der beiden Atommeiler Fukushima-Daiichi und Fukushima-Daini den atomaren Notstand aus! Der Worst Case ist demnach bereits eingetreten. Obwohl durch Ministerpräsident Naoto Kan noch nicht offiziell bestätigt, sind sich die Experten dieser Welt sicher: Eine Kernschmelze hat stattgefunden! Jetzt stellt sich nurmehr die Frage: Bleibt es ein GAU (hierbei hält der Reaktor selbst den Temperaturen und dem Druck stand - Radioaktivität tritt "lediglich" durch das Ablassen von kontaminiertem Wasserdampf aus) oder wird es ein Super-GAU, der Tschernobyl nur als kleinen Fisch daneben erscheinen lässt. 33 Millionen Einwohner (nach ersten Schätzungen) wären davon betroffen - die Schäden an Mensch und Natur über Jahrzehnte hinweg fatal! Das Land wurde durch diese Katastrophe mitten im Umbruch erwischt. Politisch und wirtschaftlich lief in letzter Zeit nicht mehr wirklich alles rund. Daneben mussten auch die Japaner erkennen, dass der Mensch die Natur nicht beherrschen kann. Dies war allerdings zuletzt die selbstherrliche Meinung eines Grossteils der Bevölkerung. Angesichts dessen lassen die Berechnungen von Seismologen Angst und Schrecken aufkommen. Sie warnen seit Jahrzehnten vor dem Superbeben. Ist es dieses gewesen? Die Experten sind sich uneins. Viele verneinen die Frage: Dafür war das Epizentrum zu weit von Tokio entfernt. Aber: Das bislang stärkste Beben seit Beginn der Messungen könnte diesem Megabeben wohl etwas an Heftigkeit genommen haben! Ulrich Stock |
TAM-Wochenblatt Ausgabe 9 KW 11 | 21.03.2011 |
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