Ausgerechnet jener Politiker, der in einer TV-Ansprache in der Nacht auf Mittwoch betont hat, dass er kein Präsident sei, der zurücktreten kann, sondern vielmehr ein Revolutionsführer ist, ausgerechnet dieser geht gegen die derzeit laufende Revolution in seinem Land mit äußerster Brutalität vor. Muammar al-Gaddafi hat das Militär gegen die Protestierenden eingesetzt und seine Anhänger bewaffnet - Hunderte Menschen sollen bereits umgekommen sein. Nachdem am Sonntag die Unruhen auch auf die Hauptstadt Tripolis übergegriffen haben, machte der Revolutionsführer mitsamt Luftunterstützung mobil. So wird erzählt, dass Kampfflugzeuge und Hubschrauber Demonstranten beschossen haben sollen. Die ausländischen Botschaften haben schon längst dicht gemacht und ließen die meisten ihrer Landsleute ausfliegen. Diese berichten von Plünderungen, horrenden Lebensmittelpreisen und Schüssen. Nachdem Gaddafi offenbar erkannt hat, dass der Karren zu tief im Dreck steckt, schickte er vorerst seinen Sohn Saif al-Islam vor die Fernsehkameras um die aufgebrachte Meute zu beschwichtigen. Doch auch dies war nutzlos. Also zeigte er sich selbst und heizte dadurch die Situation nur noch mehr an. "Legt Eure Waffen sofort nieder, sonst gibt es ein Gemetzel!" Der 68-jährige betonte, dass er ganz Libyen, Haus für Haus säubern werde. Schuld an den Unruhen seien drogenkranke Jugendliche und ausländische Medien - die Protestierenden bezeichnete er als "Ratten", die die Todesstrafe verdienen; er werde "bis zum letzten Blutstropfen" kämpfen und wolle als Märtyrer sterben, wenn es soweit ist! Seine Anhänger forderte er auf, die Straßen wieder zurückzuerobern. Seither kommt es immer wieder zum blutigen Aufeinandertreffen von Regime-Gegnern und -Getreuen. Aus den Protesten wurde ein Volksaufstand - aus diesem ein regelrechter Bürgerkrieg. Und nun hat Gaddafi scheinbar komplett den Bezug zur Realität verloren. In einem Telefoninterview mit einem serbischen TV-Sender am Wochenende leugnete er die Unruhen. In Libyen herrsche völlige Ruhe!!! Immer mehr Militärs sagten sich von ihrem Oberbefehlshaber los, Innenminister Abdel Fatah Junes ist bereits am Dienstag zur Opposition übergelaufen. Im Fernsehsender al-Dschasira hatte er die bewaffneten Sicherheitskräfte dazu aufgerufen, "...auf die Forderungen des Volkes zu hören!". Nach ihm legte auch Justizminister Mustafa Abdel Dschalil sein Amt nieder. Gaddafi hat große Teile seines Rückhaltes verloren - er steht derzeit sozusagen mit dem Rücken zur Wand! Auch der UN-Sicherheitsrat hat den Revolutionsführer aufgefordert, die Gewalt sofort zu beenden. Das Regime solle die Menschenrechte respektieren. Zuvor hatte der libysche UN-Botschafter Ibrahim Dabbaschi vor einem "beginnenden Völkermord" gewarnt. Die Vereinten Nationen haben ihre Menschenrechtskommission beauftragt, entsprechende Ermittlungen in die Wege zu leiten. Dies könnte bedeuten, dass sich der Revolutionsführer - sofern er die Kämpfe überleben sollte - vor dem Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag verantworten muss. Die USA haben gemeinsam mit der EU zu Sanktionen gegriffen. In Europa wird ein Einreiseverbot für Mitglieder des Gaddafi-Clans bzw. -Getreue erwägt. Die Konten im Ausland sind eingefroren worden. Armee und Bevölkerung arbeiten inzwischen Hand in Hand - so soll praktisch das gesamte Staatsgebiet - mit Ausnahme der Hauptstadt Tripolis unter der Kontrolle der Gaddafi-Gegner stehen. Doch gibt es hier bereits erste Streitigkeiten. So wurde einerseits ein Nationalrat aufgestellt, andererseits allerdings auch eine Interimsregierung unter dem ehemaligen Justizminister Dschalil gebildet. Beobachter erkennen hierin den möglichen Beginn eines Bürgerkrieges. Ein solcher tobte ja auch im Nachbarland Algerien über Jahre hinweg. Aus diesem Grund überlegen sich einige westliche Staaten eine Militärintervention bevor die Lage in dieser Richtung völlig eskaliert - es geht ja auch um's Erdöl! Die Revolution ist also in vollem Gange - nur: Der Revolutionsführer stellt sich nach wie vor dagegen! Ulrich Stock |
TAM-Wochenblatt Ausgabe 7 KW 9 | 01.03.2011 |
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