Noch im Herbst letzten Jahres erklärte Kanzlerin Angela Merkel, dass die deutschen Atommeiler länger laufen sollten als ursprünglich geplant! Dann kam die Katastrophe von Fukushima! Nun soll sich die Bundesrepublik als erste Industrienation weltweit komplett vom Atomstrom lossagen. Fukushima habe aufgezeigt, "dass selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht sicher beherrscht werden können!", soweit die Begründung Merkels zur unerwarteten Umkehr. Vor dieser Entscheidung allerdings gab es Landtagswahlen, die zuhauf zu grünen Erdrutschsiegen und sogar zum ersten deutschen Ministerpräsidenten aus dem grünen Lager führten. Den Unionsparteien sind die Wähler in Scharen davongelaufen. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier warf alsdann der schwarz-gelben Koalition Unaufrichtigkeit in der Energiepolitik vor. Noch vor sechs Monaten wurde die Rücknahme des Ausstiegsbeschlusses der rot-grünen Regierung als "epochale Leistung" gefeiert, nun stelle sich die Koalition als Erfinder der Energiewende vor. "Das zieht einem doch die Schuhe aus!" (Zitat Steinmeier). Auch der grüne Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin betont: "Das ist spät, aber richtig!" Doch seien 35 % aus erneuerbaren Energien zu wenig. Gregor Gysi von den Linken geht sogar noch einen Schritt weiter: Er fordert die Rückkehr der Energie- und Wasserversorgung in den Bereich der öffentlichen Hand. Beides sind keine unwesentliche Machtinstrumente. Doch ausgerechnet der Unionspartner aus Bayern, die CSU, hatte zuvor laut Bedenken angemeldet. Die Kosten für die Verbraucher, Unternehmen und Steuerzahler seien noch nicht klar dargelegt. Daneben brauche man grundlastigen Strom. Hierzulande die Atommeiler abzuschalten um dann aus Tschechien Atomstrom zu beziehen, sei nicht zielführend. Am Ende der Debatte herrschte Einigkeit - die Kontrahenten zeigten sich erleichtert, dass das Thema endlich vom Tisch ist. Doch ist der Weg dorthin noch steil und steinenreich. Die acht bereits abgeschalteten ältesten Kraftwerke werden nicht mehr an's Netz gehen! Danach folgen schrittweise die restlichen Meiler. Bis in neun Jahren sollen 35 % des erzeugten Stroms aus erneuerbaren Energien hergestellt werden. Dadurch werde der Ausstoss an Kohlendioxid um rund 40 % gesenkt. Inzwischen wird das Stromnetz ausgebaut. Energiesparende Massnahmen (Dämmung, Heizung,...) sollen gefördert und die Herstellung aus alternativen Energien auf dem kurzen Behördenweg genehmigt werden. Wirtschaftsminister Philipp Rösler will dadurch zehn auf vier Jahre verkürzen. Sollte dies nicht möglich sein, so bleibt ein Atommeiler als "kalte Reserve" gegen einen Blackout erhalten. Auch der Wohnbau ist hiervon betroffen: Häuslebauer dürfen ab 2020 nurmehr im Niedrigstenergie-Standard Wohnraum schaffen. Bundesumweltminister Norbert Röttgen meinte beim energiepolitischen Kongress der CDU Saar in Saarbrücken zuletzt, dass der Ausstieg in dieser Form machbar ist und für die Wirtschaft einen gewaltigen Konjunkturschub ermöglichen wird. Die Preiserhöhungen sollten sich im Gegenzug in Grenzen halten. Apropos - bei diesem Punkt gehen die Meinungen auseinander. So rechnet etwa das Bundeskartellamt mit steigenden Preisen. "Die Märkte sprechen schon jetzt eine deutliche Sprache!", betont Kartellamtspräsident Andreas Mundt gegenüber der "Rheinischen Post". Die Preise sind an der Strombörse seit dem Beginn des Atom-Moratoriums um bereits zehn Prozent gestiegen. Bundeswirtschaftsminister Rösler beziffert diesen Aufschlag mit 30 bis 40 € jährlich für einen 4-Personen-Haushalt. Andere Berechnungen kommen vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung und dem Institut für Infrastruktur und Ressourcenmanagement der Universität Leipzig (im Auftrag der Friedrich Ebert-Stiftung). Hier stehen 90 Cent bis max. 1,50 € pro Monat und Haushalt zur Diskussion. Ein völliger Ausstieg bis 2015 würde sich mit einer zusätzlichen monatlichen Belastung von 2 Euro zu Buche schlagen. Die Industrie jedoch sollte es weitaus härter treffen. Bei einem jährlichen Stromverbrauch von 24 GWh (durchschnittliches Unternehmen) fallen nach der Studie der Professoren Ottmar Edenhofer (Potsdam) und Thomas Bruckner (Leipzig) zusätzliche Belastungen von 216.000 € pro Jahr an. Nach Edenhofer/Bruckner kann jedoch ein kompletter Atomausstieg nur durch zehn zusätzliche, kalorische Grosskraftwerke abgedeckt werden. In Frankreich geht unterdessen die Angst um. Aufgrund der grossen Hitze und des wenigen Regens haben die Wasserkraftwerke heuer Ihre Produktion um 30 % herunterfahren müssen. Dieses Minus ist bei ähnlichen Verhältnissen bislang durch die AKWs des östlichen Nachbarn abgefedert worden. Jetzt braucht Deutschland den Strom selbst. Alleine im Mai wurden 7.000 Megawatt weniger an deutschem Strom ins Netz eingespeist. Jährlich bezieht der Frankreich rund 16 Terawattstunden Elektrizität aus deutschen Kraftwerken. Daneben wird auch in grossen Mengen Flusswasser zur Kühlung der Atomreaktoren eingesetzt. Wasser, das derzeit ebenfalls fehlt. Ein eigens eingerichteter Krisenstab soll nun beides überwachen. Frankreich verfügt über 58 Kernreaktoren. Die Energiekonzerne prüfen inzwischen juristische Schritte gegen die Brennelementesteuer. Daneben existieren Hochrechnungen, die den Nachteil des Ausstiegs aus der Kernkraft mit satten 20 Milliarden Euro beziffern. Alleine die beiden Anbieter Eon und RWE werden wohl um rund 1 Milliarde Euro Gewinn umfallen. Ihre Aktien haben seit März des Jahres 20 % ihres Wertes verloren. Parallel dazu warnt RWE-Chef Jürgen Großmann vor der Abwanderung der Grossindustrie aus Deutschland. Investitionen würden aufgrund der ungewissen Entwicklung der Energiepreise zurückgehalten oder im Ausland getätigt. So etwa auch bei RWE selbst. Der Bundesrat wird am 8. Juli über das Gesetzespaket zur Energiewende abstimmen. Ulrich Stock |
TAM-Wochenblatt Ausgabe 19 KW 24 | 16.06.2011 |
Ohne Atom gehts auch
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