Abseits und verschwunden |
||
Online-ZeitungAusgabe 20 |
Kurzgeschichte Teil 1 |
28.09.2012 |
Ein Zettel lag unter meinem Stuhl. Kaum wahrnehmbar, zuerst dachte ich, er läge da nur ausversehen, doch als ich sah, dass er an mich adressiert war, beschloss ich ihn zu öffnen. Ich las die Überschrift: „Liebes Tagebuch…“. Wieso schickte mir einer sein Tagebuch? Doch ich konnte es vor Neugierde nicht ertragen und fing an zu lesen:
„Wie immer stehe ich abseits, wie immer beachtet mich keiner. Ich denke, ich könnte umkippen und es würde keiner bemerken. Vielleicht würden sie sich nur über diesen dumpfen Aufprall wundern, der entstehen würde, aber mehr auch nicht. Ich bin unsichtbar. Schließlich kommt es mir so vor. Nie habe ich verstanden, was Nächstenliebe bedeutet, weil, wie kann man die anderen lieben, wenn man sich selbst nicht akzeptiert?
Seit der ersten Klasse an fand ich mich immer hässlicher als die anderen, immer hab ich alles über mich ergehen lassen. Ich sah es meistens als Spaß an, doch einiges verletzte mich sehr. Wie immer verbreiten sich Lügen besser, als wenn man die Wahrheit sagt. Doch wen interessierte die Wahrheit, sie ist doch so langweilig und so geriet ich in ein immer tiefer werdendes Loch.
Sooft dachte ich schon daran, was passieren würde, wenn ich mich einfach selbst umbringen würde, würde es überhaupt irgendwer bemerken? Ich denke nicht. Doch dann gab es solche Momente, die mich wieder hochpushten. Ja ich weiß es klingt komisch, weil jetzt alle denken, wie kann ein Moment einen vom Selbstmord abhalten?
Manchmal ist es besser, wenn man abseits steht. Dann hat man nur seine eigenen Probleme, doch man kann sie mit niemand teilen. Trotzdem gibt es Menschen, die ein Lächeln auf dein Gesicht zaubern. Und diese Momente meine ich. Dann fragt ich mich, warum sollte ich die Welt für immer verlassen? Schließlich habe ich noch so viel vor mir. Aber dann folgen wieder die bösen und schlimmen Zeiten, die einen zur Qual werden. Und dann gibt es wiederum Augenblicke, die dich an etwas erinnern, an dass du gar nicht erinnert werden willst. Und so unterschiedlich diese Momente auch sind, sie werden immer auftreten. Manche sind intensiver, dafür sind andere in die Länge gezogen, aber alle haben etwas gemeinsam, sie beschreiben deinen Charakter.
Nun stehe ich auf dem Flur, die Schelle hat schon geklingelt und die Kinder eilen hastig in ihre Unterrichtsräume. Außer ich, ich bleibe stehen. Und schon wieder kommt der Gedanke hoch, was ich nur falsch gemacht hatte. Die Lehrer schauen einen nur skeptisch an, wahrscheinlich denken sie, warum ich noch draußen stehe. Doch keiner sagte etwas zu mir. Nie war einer da, wenn ich einen brauchte. Stattdessen wurde man von den Lehrern getadelt, was mach auf dem Flur noch tat. Wahrscheinlich hab ich gehofft, dass einer sich um mich gekümmert hätte. Oder mich zu einem privaten Gespräch eingeladen hätte und er mich gefragt hätte, was los sei. Doch das war nie passiert. Und mit der Zeit war es mir egal. Ich wollte so schnell wie möglich von dieser Welt.
In Religion hatte der Lehrer einmal gesagt, dass man einen, der sich selbst töten will, bemerken kann. Doch warum tat es keiner bei mir? Ich meine, wieso waren alle so still und schauten tatenlos zu? War ich für sie wirklich ein Haufen elend, was sich nicht selbst beherrschen konnte? Ich weiß es nicht, womöglich schon. Oft wurde ich schließlich drauf angesprochen, dass ich nicht immer alles so negativ sehen soll. Aber eine Frage, könntet ihr das, wenn ihr Jahrelang ausgegrenzt werdet und hinter eurem Rücken Geschichten entstehen? Womöglich auch nicht. Stellt euch doch mal bitte folgende Situation vor, ihr habt ein Date und ihr werdet versetzt. Macht ihr euch dann keine Gedanken um euch selbst, was ihr falsch gemacht habt? Nein, bestimmt nicht. Ihr seid ja die, die immer alles positiv sehen. Vielleicht hatte er nur nicht auf die Uhr geguckt oder es gab einen sehr dringlichen Zwischenfall. Aber wenn es euch mehrmals passiert. Denkt ihr dann immer noch so? Möglicherweise nicht mehr. Dann würdet ihr euch schon Gedanken um euch machen. Und so baut sich alles auf allem auf.
Oft wurde ich wegen meines Aussehens ausgegrenzt, doch was kann ich dafür, wenn meine Eltern beide nicht so viel verdienen und ich kein Einzelkind bin, was alles in den Ârsch geschoben bekommt. Entschuldigung für meinen Ausdruck. Aber stimmt es nicht, dass diese Kinder alles bekommen, was sie wollen? Zumindest habe ich das so erlebt. Andauernd habe ich gesehen, wie sie neue Sachen hatten und ich schämte mich für meine alten, abgetragenen Sachen. Ich war das 3. von 4 Geschwistern und wir konnten froh sein, wenn wir jedes Viertel Jahr ein neues Kleidungsstück bekamen. Aber sowas verstanden sie ja nicht. Wie konnten sie auch? Ich merke gerade, dass dieses kein normaler Tagebucheintrag wird. Aber nun will ich alles loswerden, alles was auf meinem Herzen liegt. Vielleicht findet ihn wer, der mich noch rechtzeitig retten kann. Aber vielleicht ist es schon zu spät… Ich weiß es nicht. Womöglich ist dies mein letzter Tagebucheintrag. Ein leerer, hilfloser Schrei in die Öffentlichkeit.“
Mit einem Rest Liebe für dich, Tanja.“
Ich war erschüttert. Es konnte doch nicht Tanja sein, die so etwas schreiben würde. Nie habe ich so etwas gelesen. Immer habe ich gedacht, dass Tanja glücklich gewesen wäre. Seit dem Kindergarten kannte ich sie, doch nie habe ich so richtig etwas mit ihr zu tun gehabt. Jetzt tat sie Leid und dann bemerkte ich, wie ich immer trauriger wurde. Wenn ich nichts unternehmen würde, würde morgen ein leerer Platz in unserer Klasse sein. Sollte ich zum Direktor laufen, um ihm die Wahrheit zu sagen? Oder ihre Eltern anrufen? Ich wusste nicht weiter, all diese Verhaltensweisen hatten wir vor Jahren in einem Fach namens „Erwachen Werden“ durchgenommen, doch das schien eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen. Also rannte ich los, ohne zu wissen wo sie wohnte. Irgendwann würde ich sie finden, da war ich mir sicher. Ich musste sie finden und das verhindern, was sie wollte. Tief in meinem Inneren war sie eingeschlossen und ich würde diese Lücke nicht ertragen können.
|