Geschichte heute oder eine heutige Geschichte?
Schweiz, Vierwaldstättersee, Altdorf, 3. Mai 2018
8 jähriges Kind versuchte einen Apfel vom Kopf seines Bruders schießen. Ohne Erfolg. Die ganze Familie trauert.
Wahrscheinlich kommt es für viele von Ihnen bekannt vor. Und glauben Sie mir, Ihr Gedächtnis betrügt Sie nicht! Eine Szene Friedrich Schillers Drama, das im Jahre 1804 veröffentlicht wurde, weist die gleiche Geschichte auf. Oder kennt vielleicht nicht ein jeder diese Geschichte? Ich weise dann doch kurz darauf hin.
Auf dem Hauptplatz steht eine Stange, darauf der österreichische Kaiserhut. Wer vorbeigeht, muss nach dem neuen Gesetz aus Ehre seinen Hut heben. Der mutige und geschickte Jäger, Wilhelm Tell, hat es nicht gemacht. Der Landvogt Hermann Gessler hat ihn deswegen gestraft und verhaftet. Die Strafe war schrecklich: der Jäger musste einen Apfel von 100 Schritten Distanz vom dem Kopf seines eigenen Sohnes schießen. Der Schuss war erolgreich und Wilhelm hätte frei gelassen werden müssen. Es war aber nicht so. Gessler bemerkte im Gürtel des Jägers einen zweiten Pfeil und er fragte ihn, welches Ziel er damit hat. Die Antwort lautete: „Wenn der Schuss nicht gelungen hätte, dann hätte ich den zweiten nicht verfehlt. Ich hätte dich damit am Herzen getroffen.” Wegen dieser Worte hat Gessler den Tell wieder verhaftet.
Einerseits ist natürlich diskussionswürdig die Tatsache, ob die Verhaftung von Tell das richtige Verfahren in dieser Situation war. Andererseits stellt sich die Frage, ob dieses Drama eine Motivation für dieses schreckliche Ereignis hätte sein können.
Bei Schiller geht aber die Geschichte weiter.
Nach Wilhelms zweiter Verhaftung, wollte ihn Gessler mit einem Schiff nach Küssnacht in seine Burg bringen. Unterwegs entstand plötzlich ein Sturm. Weil Tell nicht nur ein guter Jäger, sondern auch ein ausgezeichneter Schiffer war, wurde er von dem Mast losgebunden, ans Steuerrad gestellt, um ihnen zu helfen. Nachdem der Protagonist das Schiff erfolgreich ans Ufer steuerte, sprangen alle von Bord, wo etwas Unerwartetes passiert ist: Gessler wurde plötzlich ermordet.
Man könnte annehmen, dass auch Schillers Drama die Mörder bei ihren Mordtaten motiviert hat. Zum Beispiel „erflogreiche” Attentate: am 15.04.1865 gegen Abraham Lincoln in Washington, am 10.09.1898 gegen Kaieserin Elisabeth in Genf, am 28.06.1914 gegen Franz Ferdinand in Sarajewo und am 22.11.1963 gegen John Kennedy in Dallas.
„Erlfolglose” Attentate: am 18.02.1853 gegen Kaiser Franz Jospeh, am 30.08.1918 gegen Lenin und am 20.07.1944 gegen Hitler.
Was ist aber dann mit den Attentaten, die vor 1804 geschehen sind? Kann sein, dass es damals zwar nicht so bekannte aber doch solche Dramas, wie das Tell Drama von Schiller auch gegeben hat, die die Mörder von Julius Caesar, von Caligula oder von Napoleon motiviert haben?
Viele glauben, dass der Mord eines Tyrannen nicht zu einem Erfolg und zu Veränderungen führen kann, aber in diesem Fall bestätigt dieses historische Ereignis doch die Gerechtfertigkeit der Tatsache: laut der Legende schlossen Vertreter der drei Urkantonen Walter Fürst von Attinghausen (Uri), Werner Stauffacher (Schwyz) und Arnold von Melchtal (Unterwalden) auf der Rütli-Wiese am Vieraldstättersee, mit einem Eid einen Bund gegen die tyrannischen Vogte der Habsburger, der nach der Ermordung eines Vogts durch Tell in einen offenen Aufstand mündete.
Es ist annehmbar, aber nicht wahrscheinlich, dass der 8-jährige Täter Schillers Drama gelesen hat. Die Schriftsteller wissen ja nie - und deswegen sollten sie darauf achten - wie ihre Werke auf ihre Leser wirken.
Laura
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